«Wir haben bei den Gemeinden offene Türen eingerannt.»

03.03.2022

Viele ältere und kranke Menschen wollen zu Hause wohnen bleiben und sich gut versorgt wissen. Heidi Kaspar und ihr Forschungsteam haben in vier Gemeinden sorgende Gemeinschaften initiiert. Sie erzählt vom Projekt CareComLabs und sagt, warum es in der Schweiz einen Kulturwandel braucht.

Interview: Anina Torrado Lara
Fotos: zVg

Heidi, du forschst zur Gesundheitsversorgung in der Schweiz. Wo drückt der Schuh?

Heidi Kaspar: Es ist aktuell viel von der alternden Gesellschaft die Rede – als wäre das eine grosse Bürde. Dabei es ist doch zunächst einmal eine Errungenschaft! Wir werden älter und bleiben länger gesund. Doch irgendwann braucht jede und jeder Unterstützung. Die Pflege ist in der Schweiz gut über die Spitex und das Krankenversicherungsgesetz (KVG) organisiert. Aber: Alles, was über die Spitex-Leistungen hinausgeht, muss selbst organisiert und berappt werden. Was oft zu kurz kommt, sind Gespräche oder Hilfe im Haushalt.

Das können sich nicht alle leisten.

So ist es. Wer Geld hat, kann sich Hilfe holen. Allerdings ist Geld nicht die einzige Hürde. Scham spielt auch eine grosse Rolle. Aus früheren Studien wissen wir, dass es vielen schwer fällt, externe Unterstützung zu suchen und anzunehmen. Angehörige sind ein tragender Pfeiler der häuslichen Langzeitbetreuung. Sie leisten oft mehr, als ihnen guttut – und das kostenlos. Das ist nicht nachhaltig. Wir von der Berner Fachhochschule – Gesundheit haben darum nach einer besseren Alternative für Menschen gesucht, die zu Hause alt werden wollen. Wir stecken scheinbar in einer Sackgasse. Zuhause alt werden wird von allen befürwortet, aber das Gesundheitssystem ist nicht darauf ausgerichtet. Und auch ein Ausbau der Gesundheitsleistungen zeichnet sich nicht ab.

Die Verantwortung für die Sorgearbeit muss auf mehrere Schultern – also gerechter – verteilt werden.

Heidi Kaspar

Wo siehst du Lösungsansätze?

Auf der Suche nach möglichen Lösungen sind wir auf das Konzept der Caring Communities gestossen und fanden das vielversprechend. Auch wenn «Caring Community» gerade ein schillernder Begriff ist und man viel Verschiedenes darunter versteht, fanden wir den Kern der Idee zukunftsweisend. Für uns zentral sind zwei Aspekte: Erstens, die Sorgearbeit mit ihren vielseitigen Facetten ins Zentrum der Gesellschaft zu rücken. Das ist eine unserer Kernaufgaben, kein Randthema. Und zweitens der Anspruch, die Verantwortung für die Sorgearbeit auf mehrere Schultern – also gerechter – zu verteilen. Profis und Freiwillige, Nachbarn und Familienmitglieder bilden ein Sorgenetzwerk.

Ihr habt den Begriff «CareComLabs» geprägt. Was versteht ihr darunter?

Der Begriff setzt sich aus Caring Community und Living Lab zusammen. Letzteres ist eine Art «Alltagslabor». Der Begriff kommt aus der Technikentwicklung, wir wenden ihn nun für soziale Innovation an. Zum Teil ist da auch eine technische Komponente mit drin, aber nicht notwendigerweise. Living Labs eröffnen ein Experimentier- und Lernfeld, um neue Lösungen in realen Lebenswelten und im Alltag zu erproben. Mit dem Projekt CareComLabs wollen wir in Gemeinden innovative Modelle entwickeln, um pflegebedürftige Menschen umfassend zu Hause zu versorgen.

Kurzfilm: Was sind «CareComLabs»?

Wie seid ihr konkret vorgegangen?

Gestartet sind wir mit drei Spitex-Organisationen als Partnerinnen. Wir haben gleich zu Beginn das Gespräch mit Gemeinden in der Region Bern und Zürich gesucht und sind auf offene Türen gestossen. Sie fanden das Thema wichtig, einige haben es inzwischen auf die politische Agenda gesetzt. Es wurde aber auch deutlich, dass die Offenheit des Konzepts herausfordernd ist: Es gibt keinen vorgezeichneten Weg. Was will man überhaupt erreichen? Was versteht man unter sorgender Gemeinschaft? Solche Fragen mussten die jeweiligen Spurgruppen beantworten, wir haben das ganz bewusst nicht vorgegeben. Und wir erleben gerade, dass diese Fragen nicht einfach nur am Anfang beantwortet und ad acta gelegt werden können. Man muss sie immer wieder stellen und immer wieder Antworten finden.

Neben anfänglicher Verwirrung und Skepsis war da auch immer viel Interesse, Neugier und der Wille, die Zukunft zu gestalten.

Heidi Kaspar

Wo waren Stolpersteine auf dem Weg zum Ziel?

Zuerst haben wir in den Gemeinden ein bisschen Verwirrung gestiftet (lacht). Unsere Absicht, Caring Communities mit lokalen Partner*innen und passgenau für die jeweiligen Begebenheiten zu entwickeln, wurde zum Teil missverstanden. Partizipation ist ein Kennzeichen des Projektes: Also nicht nur für die Menschen vor Ort, sondern mit ihnen sorgende Gemeinschaften anstossen. Damit wollten wir sicherstellen, dass die entwickelten Initiativen gut in die örtlichen Strukturen passen. Sie sollen relevante Probleme angehen und fortbestehen, wenn unser Projekt ausläuft. Und es braucht viel Kommunikation, um die Chancen aufzuzeigen und alle ins Boot zu holen. Unser Forschungsteam moderierte den Prozess. Neben anfänglicher Verwirrung und Skepsis war da auch immer viel Interesse, Neugier und der Wille, die Zukunft zu gestalten. Es hat auf jeden Fall geholfen, dass wir als externe Coaches halfen, den Arbeitsmodus, die Rollen, den Sitzungsrhythmus und die Ziele zu definieren.

Was ist ein kritischer Erfolgsfaktor?

Das wichtigste war, ein Modell mit Partnern vor Ort aufzubauen und nichts vorzugeben. Unsere Rolle war, die Grosswetterlage zu analysieren und Vorschläge zu machen, dann aber die Partnerinnen und Partner am Tisch entscheiden zu lassen. Sie tragen das Projekt und sind auch noch da, wenn unsere Arbeit abgeschlossen ist. Die vier Pilotgemeinden haben dann wie erwartet sehr unterschiedliche Lösungen entwickelt.

Gibt es erste Erfolgsgeschichten?

Ja, wir dokumentieren die Aktivitäten, die sich entwickeln, auf der Webseite. In Schwamendingen wurden z.B. sogenannte Digi Kafi-Treffs etabliert, wo Freiwillige älteren Menschen bei der Nutzung ihres Mobiltelefons helfen. Hier ist uns wichtig, nicht nur praktische und technische Hilfe anzubieten, sondern eine Gelegenheit, Beziehungen im Quartier zu knüpfen und zu pflegen. Die Digi Kafi-Treffs sind gesellige Orte. Für mich ist es ein Erfolg, dass wir in allen Gemeinden einen Raum schaffen konnten, in dem verschiedenste Akteure sich mit dem Wohlbefinden der Bevölkerung auseinandersetzen. Hinschauen, verstehen wollen, Bedürfnisse sehen: Das ist der erste Schritt zur Sorge.

Wie führt ihr das Projekt in eine nachhaltige Zukunft?

Wir wussten immer, dass die Nachhaltigkeit keine einfache Aufgabe sein wird. Glücklicherweise haben in einigen Gemeinden die Lokalen das Steuer früh übernommen und das Projekt vorangetrieben. Sie haben alle Akteurinnen und Akteure an den Tisch geholt: Freiwillige, die Alterskommission, Jugendorganisationen, Sozial- und Gesundheitspartner wie die Kirchen, Gemeinschaftszentren und die Spitex. Diese Netzwerke werden nun in Strukturen überführt, sodass sie auch funktionieren, wenn wir als Forschungspartner wegfallen. Aber: Auch diese Strukturen sind nicht unverletzlich. Wir haben schon Erschütterungen erlebt. Etwa, weil tragende Leute wechseln oder die politische Agenda sich verändert.

Die ideale Rollenverteilung? Die Gemeinde übernimmt eine Inkubator-Funktion. Sie ist ein Ort, um anzudocken und um Unterstützung zu bieten.

Heidi Kaspar

Wer würde idealerweise den Lead übernehmen?

Ich habe keine klare Antwort darauf. Es bei der Gemeinde zu verankern, scheint verlockend, denn es gibt Sicherheit und Kontinuität. Das Thema ist auf der politischen Agenda. Eine zu starke Formalisierung kann ein Projekt aber auch einengen und engagierte Menschen abschrecken, denn es geht dann um Budget und Zuständigkeiten. Die reine Selbstorganisation auf der anderen Seite ist zwar agil, aber oft stark von Einzelpersonen abhängig. Der goldene Mittelweg wäre wohl ideal: Die Gemeinde übernimmt eine Inkubator-Funktion. Sie ist ein Ort, um anzudocken und um Unterstützung zu bieten. Die Projekte laufen am Ende des Tages wohl besser, wenn sie selbstorganisiert bleiben. Die Gemeinde soll die gute Versorgung aller Bürgerinnen und Bürger auf jeden Fall zum allgemeinen Interesse erklären.

Das Forschungsprojekt ist fast beendet. Was liegt dir am Herzen?

Es klingt utopisch, aber ich finde, wir benötigen dringend einen Kulturwandel hin zu mehr Sorgebereitschaft und -fähigkeit. Eine Umorientierung hin zum Gegenüber. Wir müssen kollektiv das Bewusstsein stärken, dass wir alle voneinander abhängen und es Situationen im Leben gibt, wo wir auf die Unterstützung anderer angewiesen sind. Sorgearbeit ist eine Priorität in unserer Gesellschaft. Das liegt mir am Herzen und ich bin überzeugt, dass das Projekt CareComLabs einen Beitrag dazu leistet.

In «CareComLabs» entwickeln Menschen gemeinsam Aktivitäten, um andere Menschen zu Hause gut zu versorgen (Foto: zVg)


Projekt CareComLabs

Die Berner Fachhochschule – Gesundheit unterstützt Gemeinden, die den Prozess zur ganzheitlichen Gesundheitsversorgung anstossen wollen. Sie haben ein gemeinsames Ziel: die häusliche Sorgearbeit auf mehrere Schultern verteilen und es pflegebedürftigen Menschen ermöglichen, zu Hause zu wohnen.

Interessierte Gemeinden profitieren von einem Blueprint-Modell, das auf den Erfahrungen aus dem Projekt beruht. Laut Heidi Kaspar soll zuerst mit der Bevölkerung eine Standortbestimmung und eine Bedürfnisabklärung stattfinden. Dann setzen sich alle Akteur*innen zusammen, um gemeinsam Prioritäten zu setzen und passende Initiativen zu entwickeln. Interessierte melden sich bitte direkt bei Heidi Kaspar.

Mehr Informationen
Veranstaltung zum Thema am 22. März 2022


Zur Person

Heidi Kaspar ist Co-Projektleiterin von CareComLabs und Co-Leiterin des Kompetenzzentrums Partizipative Gesundheitsversorgung an der Berner Fachhochschule – Gesundheit. Ihr Team aus Wissenschaftler*innen an der Berner Fachhochschule (Shkumbin Gashi, Anita Schürch und Karin van Holten), der Careum Hochschule Gesundheit (Katharina Pelzelmayer und Eva Schellenberg) und der Universität Siegen (Tanja Ertl, Claudia Müller, Tuan Vu Pham und Timur Sereflioglu) setzt das Forschungsprojekt «CareComLabs» in vier Pilotgemeinden in den Regionen Bern und Zürich um. Es wird vom Nationalen Forschungsprogramm NFP 74 unterstützt und läuft noch bis August 2022.